Draußen zuhause?

Für das Jahresheft von Outdoorseiten.net, dem größten deutschsprachigen Outdoor-Forum und -Verein, habe ich einen Beitrag verfasst. Etwas abgeändert veröffentliche ich ihn jetzt auf meinem Blog.

Den Zaunkönig habe ich hier auch schon lange nicht mehr gesehen, denke ich beiläufig, während ich durch das kurze Waldstück zwischen den Wohnblöcken hindurch spaziere. Ich überquere eine vielbefahrene Straße und habe mein Ziel erreicht: einen alten Park, der sich selbst überlassen wird und für die Öffentlichkeit gesperrt ist. Nach einiger Suche habe ich eine Möglichkeit gefunden, mir Zugang zu verschaffen und komme seit einem guten Jahr regelmäßig hierher, um eine Zeitlang ruhig zu sitzen und meine Umgebung zu beobachten. Mal schaffe ich es täglich, meist aber nur wöchentlich. Heute ist es jedenfalls mal wieder so weit, ich habe es geschafft mir die Zeit zu nehmen und betrete das vertraute Areal. Zwischen verfallenden Bauten und im Schatten alter Bäume wächst ein junger Buchenwald heran, die Wege sind knöcheltief mit Laub bedeckt. Obwohl ich mich bemühe sanft und leise zu gehen, raschelt es bei jedem Schritt. Doch der Straßenlärm übertönt hier noch alles und ich bemühe mich, schnell zu meinem Sitzplatz am anderen Ende des Parks zu gelangen. In Gedanken versunken registriere ich nur beiläufig das Krächzen der Krähen in den Baumwipfeln. Erst als ich schon ein ganzes Stück weitergelaufen bin, dringt mir ins Bewusstsein, dass neben den Krähen auch das heisere Schreien der Eichelhäher zu hören war. Plötzlich hellwach lausche ich zurück und höre in der Entfernung außerdem Kohlmeisen, Kleiber und eine Amsel lautstark schimpfen. Vogelalarm!

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Mehr braucht es nicht, um „draußen zuhause“ zu sein: ein Dach über dem Kopf und ein warmes Schlafsack-Bett. Doch wie die selektive Schärfe der Aufnahme suggeriert ist es so einfach nicht.

Wie konnte mir das vorhin entgehen? Ich erinnere mich sofort an eine ähnliche Situation an der selben Stelle, als mich die aufgeregt schimpfenden Singvögel auf einen Mäusebussard aufmerksam gemacht haben, der nur zehn Meter entfernt von mir über einer frisch gerissenen Ringeltaube hockte. Neugierig und bemüht leise taste ich mich in den Wald hinein, in Richtung des noch entfernten Geschreis. Als ich auf gut zwanzig Meter herangekommen bin, nehme ich mein Fernglas und blicke in die Richtung der Rufe, die erstaunlicherweise vom Boden kommen. Gut getarnt in all dem Buchenlaub erkenne ich gleich einen Eichelhäher, der neben einem Blätterhaufen sitzt. Hier sind überall Fuchsbauten unter dem Laub. Vergangenen Winter konnte ich auch mehrmals die Füchse selbst beobachten sowie ihre Spuren verfolgen. Im Sommer haben allerdings zwei Buben umgefallene Bäume über dem Gelände zu einem Lager geschlichtet und ein altes Tennisnetz darüber geworfen. Die Füchse habe ich seitdem nicht mehr gesehen. Das Netz hat nun das Herbstlaub aufgefangen und ihr altes Lager in einen großen Blätterhaufen verwandelt. Als ich den Eichelhäher ins Auge fasse, scheint auch er mich bemerkt zu haben und friert in seiner Bewegung ein. Mit ein paar geschmeidigen Flügelschlägen erklimmt er eine junge Buche um einen besseren Ausblick zu haben und schaut mich neugierig mit langem Hals an. Völlig bewegungslos an einen Baum gelehnt hoffe ich, dass er das Interesse verliert, aber seine beiden Kollegen sind durch sein Verhalten auch aufmerksam geworden und kommen heran geflogen. Drei Eichelhäher (sind es Männchen oder Weibchen?) sitzen nun in den höheren Etagen der jungen Bäume um mich herum und scheinen sich nicht ganz sicher zu sein, wie sie die Situation einschätzen sollen. Ohne ein weiteres Schimpfen – immerhin! – ziehen sie nacheinander von dannen und mir wird erst dann bewusst, dass auch die anderen Vögel völlig verstummt sind.

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Wer kennt diese von mir speed-portraitierte Pflanze?

Das Waldstück liegt nun seltsam schweigend vor mir, und vorsichtig komme ich näher. Als ich an der Stelle angelangt bin, an der der Eichelhäher saß, blicke ich mich suchend um. Im Augenwinkel sehe ich eine Bewegung unter dem Netz des alten Lagers und denke schon: „haben sich die Jungs da drin auf die Lauer gelegt?“ – als plötzlich ein riesiger graubrauner, unförmiger Federball auf der anderen Seite heraushüpft und sich in die Luft erhebt! Völlig geräuschlos breitet er seine Schwingen aus. Oider! denke ich mir und blicke fassungslos und gespannt mit meinem Fernglas zu dem Ast über mir, auf dem sich der Federball niedergelassen hat. Zwei große, gänzlich schwarze Augen blicken mich direkt an. Ich glaube Verwunderung und Müdigkeit in ihnen zu lesen, vor allem aber begegnet mir eine stille Fremdheit, die mir undurchdringlich bleibt. Der Waldkauz sitzt noch ein paar Sekunden da und betrachtet mich, bevor er sich umdreht und ebenso geräuschlos im Licht der Nachmittagssonne verschwindet.

Den ganzen Tag lang bin ich elektrisiert von dieser Begegnung und auch jetzt, Monate später, wo ich darüber schreibe, bekomme ich Gänsehaut. Als ich den Park betreten habe, war ich noch ganz in meinen Gedanken, eingelullt in die wabbelnde Gallertmasse des Alltags. Diese bleibt meist unbemerkt, weil ihre Funktion genau darin besteht, alle Dinge als schon verstanden miteinander zu verkleben, sodass wir meist sicher vom Bett ins Bad, in die Küche, zur Bushaltestelle, ins Büro taumeln können und zurück; unsere Freunde und Partner mit den selben alten Worten begrüßen, mit den selben alten Küssen berühren, und, bevor uns die Müdigkeit überfällt, gelegentlich in Serien, Filmen oder auf Internetseiten Bilder unserer Sehnsüchte begaffen und in wohltemperierten Räumen von Freiheit und Abenteuer träumen. Die klebrigen Pfade dieses Spinnennetzes der Gewohnheit sind zeitsparend, doch sie bergen die nicht zu unterschätzende Gefahr, uns blind zu machen für das, was jenseits des Bekannten liegt.

Die Rufe der Eichelhäher haben mich wachgerüttelt: ich bin einer anderen Dimension als der meiner Gewohnheit begegnet und durfte das belebende Gefühl erfahren, wahrlich draußen zu sein.

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Was ist jenseits von Kultur und Natur?

Draußen zuhause?

Das Online-Forum Outdoorseiten.net beispielsweise ist eine „Plattform für alle Menschen mit Interesse an Outdoor-Aktivitäten, am Draußensein und am Reisen“, heißt es unter Punkt 1 der FAQ – auch wenn ich die Häufigkeit dieser Frage stark bezweifle. Denn dass es in einem Outdoor-Forum um Outdoor-Themen geht, ist ziemlich selbsterklärend. Das gilt besonders in einer Gesellschaft wie der unseren, in der Outdoor-Aktivitäten inzwischen selbstverständlich einen großen Teil der Freizeit ausmachen. „Selbstverständlich“, das werde ich noch öfters schreiben. Denn mein Beitrag versucht den Begriff des Draußenseins ins Auge zu fassen und unterstellt, dass es mit dem bloß räumlichen Nach-draußen-gehen noch nicht getan ist. Nach und nach werde ich eine anspruchsvolle Vorstellung von Draußensein formulieren, die sich gegen selbstverständlich gewordenes behaupten soll. Dabei schließe ich ausdrücklich an den Beitrag des Users Igelstroem „Über das Wandern“ im Heft 2015 an.

Was Igelstroem dort trefflich über das Wandern gesagt hat, will ich von der Erfahrung des Draußenseins her generell bedenken, und dabei vielleicht dem Weg folgen, den er am Ende seines Textes vorgezeichnet hat: „Auch aus diesem Vorrang der Fremderfahrung vor der Selbsterfahrung hätte man womöglich alles entwickeln können, was ich hier gesagt habe.“ Aber der Reihe nach.
Draußen zuhause“, so wirbt bekanntlich Jack Wolfskin für seine Outdoor-Ausrüstung. Vaude macht mit „The Spirit of Mountain Sports“ ein ähnlich emphatisches Versprechen, die SattlerLederWaren Salewa locken mit „Experience the Mountains“. Es wäre ja eine lustige Idee, die Wahl seiner Outdoor-Ausrüstung rein von Werbeslogans abhängig zu machen (wobei diese Wahl angesichts der Austauschbarkeit dieser Slogans schwer fallen würde).
So absurd dieser Gedanke zunächst scheint, die Realität unseres Konsumverhaltens ist freilich nicht zu weit davon entfernt. Wenn wir unsere Ausrüstung auswählen, je nachdem ob sie besonders funktional, robust, wertig oder peppig, modern, bunt erscheint, dann folgen wir damit auch, und oft in erster Linie, ästhetischen Gesichtspunkten. Dass wir beim Wandern in gemäßigten und wärmeren Zonen die Funktionalität unserer Ausrüstung nicht restlos optimieren müssen, eröffnet eben, wie Igelstroem bemerkt hat, einen Spielraum für Ästhetisierung. Weil die Ausrüstung nicht unbedingt funktional sein muss, ist die Entscheidung für reine Funktionalität vor allem eine ästhetische. Die Wahl eines besonders funktionalen „Bushcraft“-Messers etwa geschieht in meinen Augen oft nicht um der Funktionalität, sondern vielmehr um der Ästhetik der Funktionalität willen.
Während man sich aber von poppigen Jacken bis hin zum vermeintlich bodenständigen Jagdloden den verschiedensten Stilen hingeben kann, folgt man dabei immer der Devise „Draußen zuhause“. Dieses Versprechen bleibt unabhängig von den verschiedenen Ausdifferenzierungen der Industrie und ist ihnen allen gemein. Der Spruch, den Jack Wolfskin mit genialem Kalkül geprägt hat, drückt also das Versprechen der gesamten Outdoor-Industrie auf einmal aus. Wie es sich für einen Werbespruch gehört, adressiert das Versprechen zugleich eine Sehnsucht. Würden „wir“ (soviel pauschale Anbiederung möge man mir verzeihen) uns nicht danach sehnen, „draußen zuhause“ zu sein, hätte eine solche Vermarktung wenig Sinn.

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Jagdrevier und Weitwander-Eldorado. Überhaupt wurde das Karwendel erst vom Bergsteiger Hermann v. Barth als Gesamtheit entdeckt. Die Kalksteine scheinen sich um ihre Namen nicht zu scheren, die Frage ist also: können wir ihrem Schweigen Gehör schenken?

Was aber heißt Draußensein überhaupt, und was kann Draußen-zuhause-sein bedeuten? Bei näherer Betrachtung zeigen sich zwei gegenläufige Bedeutungen.

Draußen“ versteht sich zunächst vor allem als Gegenbegriff zu „Drinnen“: „Drinnen“ heißt wohl soviel wie ein Dach über dem Kopf haben. In einer Ruine kann man zwar innerhalb der Hausmauern sein, aber man ist immer noch den unverfügbaren Launen des Wetters ausgesetzt. Würde sie jedoch Schutz vor Wegelagerern bieten, wäre es durchaus sinnvoll von „Drinnensein“ zu sprechen. Drinnen verstehe ich also als einen abgegrenzten Raum, der einen gewissen Schutz bietet.
Hinzu kommt hier noch, dass man in einer Höhle z.B. nicht im vollen Sinne drinnen ist. Zumindest mein Sprachgefühl sträubt sich hier – für mich heißt Drinnensein auch von den Produkten des eigenen Geistes umgeben zu sein. Wenn ich vom Laptop aufsehe, fällt mein Blick auf makellos glatte weiße Wände, auf Möbel, Bücher, Lampen – einzig die Zimmerpflanzen und die wenigen Fundstücke aus der Natur, die ich auf einem Regal aufgereiht habe, beugen sich nicht der menschlichen Zwecksetzung, auch wenn sie freilich in dieser als Zier einen Zweck bekommen haben. Meine Wohnung bietet nicht nur Schutz, sie spiegelt auch die Seele ihres Bewohners wider.
Wenn wir also „Schutz vor den Elementen“ und „menschliche Zwecksetzung“ als wesentliche Eigenschaften von „Drinnen“ ansetzen, dann heißt Draußensein sowohl ausgesetzt, als auch von Andersartigem umgeben zu sein.
Folgen wir dieser Bedeutung, dann kann Draußen-zuhause-sein einerseits bedeuten, dass wir die Ausgesetztheit und Fremdheit des Draußen so fest in den Griff bekommen haben, dass sich das Draußen eigentlich in ein Drinnen verwandelt hat. Das lässt sich oft in der Verfügbarmachung der Outdoor-Ausrüstungsindustrie wiederfinden, die mit diversen Technologien wie Gore-Tex eine Immunisierung gegen das Draußen verspricht. Diesem (schlechten) Sinn entgegengesetzt wäre die zweite Bedeutung, auf die es mir ankommt. Draußen-zuhause-sein könnte andererseits bedeuten, dass man die Fremdheit und Unsicherheit des Draußen annimmt und eine zärtliche Vertrautheit zu ihm entwickelt. Ein Zuhause-sein mit dem Draußen anstatt gegen es.

Doch bevor ich dem nachgehe, wie ein solches Draußen-zuhause-sein aussehen könnte, und was es mit unserer Sehnsucht danach zu tun hat, will ich mich noch auf eine ähnliche Formulierung in Igelstroems Text beziehen. Unter Punkt IIII lese ich: „Eingesperrt sind natürlich alle, und die es nicht sind, sind wirklich schutzlos und sehnen sich nicht nach Abenteuern. Das Einssein mit der Natur gibt es auch beim Wandern, solange man dabei nicht zu Tode kommt, nur als punktuelle, schimärische Erfahrung“. Um dem Missverständnis vorzubeugen, dass ich ein „Einssein mit der Natur“ beschwöre, will ich mich diesem Zitat anschließen. Mit der Ergänzung, dass „Draußensein“ in seiner Intensität graduell variieren kann. Als Fremderfahrung und Moment von Verunsicherung ist diese Erfahrung nicht an klar voneinander abgegrenzte Räume gebunden. Die Trennung von Kultur und Natur, die ich oben am Beispiel der Höhle aufgemacht habe, ist zu relativieren in Hinsicht auf die Momente des Anderen und des Eigenen. In fremden Kulturen begegnet uns zunächst Anderes, und auch die Eigene verstehen wir besonders dann, wenn wir sie aus einer gewissen Distanz als andere wahrnehmen. Draußensein als Fremderfahrung ist also keineswegs auf „die Natur“ begrenzt. Hier sollte man das Draußensein auf seine phänomenalen Schattierungen und Implikationen im Spannungsfeld von Eigenem und Anderem, Kultur und Natur bedenken. Ich lasse jene Fragen aber stehen und wende mich für diesen Text dem Draußensein als Fremderfahrung in der Natur zu.

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Wenn Drinnen und Draußen verschwimmen.

Nochmal Alltagsszenario. Wir sitzen in der S-Bahn und beim Blick aus dem Fenster lesen wir die Schlagzeilen der Werbetafeln, sehen Straßenschilder, Bushaltestellen, Restaurants, Supermärkte, Parkplätze. Wir sehen nicht die Hände der Passanten, die Fassaden der Bürogebäude, die Vögel in den Baumkronen, den Fuchs im Gebüsch. Unsere Wahrnehmung beschränkt sich auf einige hervorstechende Merkmale (je nach den individuellen Vorlieben plus die aufdringlichen Zeichen und Werbung) und es spart uns Zeit und Energie, diesen Fäden zur Orientierung zu folgen. Das kann man immer gut bei einem Städtetrip erleben: in einer fremden Stadt haben wir das Netz noch nicht ausreichend gesponnen und müssen uns die Zeichen der U-Bahn etc. zunächst einprägen, bleiben stehen mit der Karte in der Hand, werden angerempelt oder vielleicht als Touristen hilfsbereit angesprochen. Nach einigen Tagen jedoch bleibt die Karte in der Tasche und wir fließen mit den Einheimischen an den Orientierungsfäden entlang.

Doch so effizient dieses Spinnennetz der Wahrnehmung ist, so löchrig ist es. Unglaublich, was wir alles übersehen und überhören. Vor allem aber fördert es eine strukturelle Blindheit: wenn wir nur noch wahrnehmen, was unseren Interessen und Zielen dienlich ist, dann gibt es nichts mehr, was uns in unserer Selbstzufriedenheit und selbstverständlichen Überzeugtheit vom eigenen Weltbild irritieren kann. Diese Tendenz des Lebens, sich in seinen Bahnen zu vertiefen und wie in Spurrinnen immer tiefer einzugraben, ist eine Tendenz zu Starrsinn und macht aus dem schlängelnden Gang des Lebens einen Trott. Und der ist vor allem eines: langweilig.
Dem Alltagstrott zu entfliehen und die Selbstbespiegelung zu unterbrechen mit einer Erfahrung von unverfügbarer Wirklichkeit, das scheint mir nun die große Sehnsucht nach dem „Draußen“ zu sein. Und diese Sehnsucht lässt sich so wunderschön mit Bildern quälen: so winden sich verständlicherweise nicht wenige User im Forum angesichts spektakulärer Landschaftsaufnahmen in Sehnsucht – das klassische erleuchtete Zelt unter dem Sternenhimmel, endlose Weiten, Freiheit, Abenteuer. Aber genau hier liegt eine Gefahr. Wann schieben sich die Bilder vor die tatsächliche Wahrnehmung? Freue ich mich mein Zelt erleuchtet unter den Sternen zu sehen oder freue ich mich, es zu fotografieren? Igelstroem bemerkte hier, dass es sich bei dem Einssein mit der Natur oder der absoluten Freiheit um eine idée reçue handle, die „aus der Vorstellungswelt unserer Umgebung in uns einsickert und sich, wenn sie als Redensart wieder hinaussickert, so anfühlt, als wäre sie der authentische Ausdruck unserer eigenen Erfahrung“ (IIII). So ähnlich verhält es sich auch hier. Ich fotografiere selbst oft mein leuchtendes Zelt oder Tarp unter dem Sternendach und ich weiß nie so genau, was ich da eigentlich mache. Vermutlich mache ich diese Bilder aber einfach weil sie als Bilder gut aussehen. Wenn ich einen Berg fotografiere, dann mache ich das, weil der Berg gut aussieht. Sicherlich versuche ich auch hier die Einstellungen/den Ausschnitt so anzupassen, dass das Foto am Ende den Eindruck des Gesehenen besonders gut wiedergibt. Aber beim Zeltfoto geht es mir um das Zeltfoto und nicht um das Zelt.
Allgemeiner gesprochen: es hat sich also das „schimärische Gefühl“ von Freiheit und Abenteuer, das uns draußen ab und an überwältigt, an ein Bild wie an eine Redensart gekettet, und dieses Zeltbild wird dann wie das goldene Kalb als Inbegriff dieses Gefühls angeglotzt. Wenn wir nun schon mit dem primären Vorsatz, solche und ähnliche Fotos zu machen, losziehen, dann folgen wir genau demselben dünnen Netz durch die Natur, das uns ansonsten im Alltag auf Achse hält. Dann ist Draußen nicht nur durch Zelt und Gore-Jacke, sondern viel radikaler durch unsere Erwartung zum Drinnen umgesponnen.
Das ist die Gefahr unserer Sehnsucht, die einer Industrie immerhin reichlich Umsatz beschert.

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Was sieht man hier? Das war der Versuch, Moos auf einer alten Asphaltfläche (Bild 3) im Detail zu zeichnen. Erkennst Du die Samen rechts?

Anleitung zum Draußensein

Wie können wir nun unserer Outdoor-Erfahrung und unserer Sehnsucht treu bleiben, und im guten Sinn „Draußen zuhause“ sein? Natürlich läuft jede Anleitung Gefahr, selbst zu einem Bild zu werden, dem anstelle der Sache selbst nachgeeifert wird. Darum haben die radikalen Kritiker in der Philosophie meist wenig Worte für konkrete Vorschläge verloren. Aber ich glaube einerseits nicht, dass meine Anleitung hier so weihevoll daherkommt, dass man sie kritiklos aufnähme; andererseits will ich auch keine Anleitung liefern, sondern Anstöße, wohlgemerkt im Plural. Anstöße auf Wege nach Draußen (was freilich nicht heißen soll, dass sie noch niemand geht).

I.) Weniger Bilder.

Die Eigendynamik der Fotografie erfordert zumindest eine kritische Distanz, um nicht blind zu werden und in der Landschaft nur noch Fotomotive zu entdecken. Wie es aber in der Sache der Technik liegt, deren praktischer Nutzen uns in die Hand schießt, bevor der Kopf geschalten hat, ist das gar nicht so einfach. Ich schlage also für all die anderen Willensschwachen folgende Leitsätze vor: 1. Mach maximal 10 Aufnahmen pro Tag, und nur wenn du glaubst, damit wirklich eine besondere Aufnahme machen zu können. Ansonsten genieße den Anblick einfach so in seiner Vergänglichkeit. 2. Nimm gar keine Kamera mit auf Tour und lass mit ihr den Fotografenblick zurück. Genieße die Zeit, einen spektakulären Sonnenaufgang unfotografiert und nicht durch dein Herumgeturne am Stativ unterbrochen zu bestaunen. 3. Zeichne statt mit der Kamera mit der Hand oder stelle einen Recorder neben dich und zeichne die Geräusche auf. Letzteres ist auch eine super Methode, um die Ruhe draußen bewusster wahrzunehmen.

2.) Nicht nur die Augen öffnen.

Dass wir hauptsächlich auf visuelle Sinneseindrücke reagieren ist ein alter aber wahrer Hut. Tasten, Hören, Riechen, Schmecken! Versuche einen schönen Eindruck nicht nur visuell zu erinnern, sondern beziehe die anderen Sinne mit ein: kannst Du verschiedene Steinarten von Flusskieseln ertasten? Hörst du den Unterschied von im Wind rauschenden Laub- und Nadelbäumen? Riechst Du das Wasser in der Nähe? Aber auch unser Sehen lässt sich vom fokussierten Tunnelblick zum weichen Weitwinkelblick umstellen. Ich glaube zwar nicht, dass erst unsere Sinne die „Tore zur Welt“ sind – aber bitte, macht die Türen auf!

c) Forsche und Staune.

Auch unser Geist ist ein scharfer Sinn, also nutzen wir ihn, um aus den Spurrinnen unseres Denkens und Wahrnehmens auszubrechen und kreuz und quer in die Löcher des Alltagsnetzes hineinzustöbern. Machen wir uns eine Gewohnheit daraus, mit Gewohnheiten zu brechen. Besonders gut geht das, wenn man versucht Spuren zu lesen; nicht nur Fußabdrücke von Tieren können Geschichten erzählen, auch eine ganze Landschaft lässt sich „lesen“. Wo verlaufen die Tierpfade, von welchen Tieren wo? Wo gibt es menschliche Einflüsse, wo gab es sie? Wo haben Gletscher, Platten, Seen, Flüsse, Bäche und Meere die Landschaft geformt und formen sie noch? Wo gehen die Pflanzenarten ineinander über, und warum? Was ist das für ein Baum? Wie sieht nochmal eine Kohlmeise aus? Zeichnen ist hier eine große Hilfe, weil es unseren Blick wieder und wieder genau auf das Gezeichnete zwingt. Egal was dabei rauskommt.

∂) Chillax!

UrbanDictionary.com: „To loosen or reduce the level of stress by employing a more relaxed and groovy outlook.“ Meine Vorschläge für mehr Nähe zum Draußen könnten auch wie ein Imperativ zur Leistungssteigerung gelesen werden, gar als die Vollendung der Identifikationslogik „aus Draußen mach Drinnen“. Aber ich bin zuversichtlich, dass die Befolgung sehr schnell damit aufräumen würde, denn eine intensive Erfahrung wirklichen Draußenseins wird ganz von selbst zum Selbstzweck. Dennoch diese letzte Handlungsanweisung: „Chillax!“, denn auch vor lauter Begeisterung fürs Draußensein kann man sich in den Stress hineinsteigern, so viel wie möglich davon aufnehmen zu müssen.

Und jetzt? Ab nach draußen!

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