Schlüssel zur Naturbeobachtung: der Sitzplatz

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Der Tannenhäher ist ein aufmerksamer Beobachter – und viele andere Beobachter im Wald beobachten ihn und seine Reaktionen auf seine Beobachtungen. Auch wir können das!

Kein noch so hochwertiges Fernglas kann einem die Beobachtungen und Naturerfahrungen ermöglichen, die einem am Sitzplatz einfach so zuteil werden. Diese Routine als Beobachtungstechnik fasziniert mich ganz besonders, und lässt einen innerhalb kürzester Zeit unfassbar intensive Erfahrungen mit der wilden Natur vor der Haustür sammeln, die schließlich auch ein Verständnis von Natur überhaupt näher bringen. In diesem Blogpost möchte ich dazu anregen, sich einen Sitzplatz zu suchen und regelmäßig dort hin zu gehen!

Wenn ich zurückdenke, sind es genau solche Sitzplatz-Erfahrungen gewesen, die als Kind meine Begeisterung für die Natur geweckt haben. An irgendeinem schönen Fleck in der Natur einfach länger sitzen bleiben und hellwach die Augen und Ohren spitzen. Und dann zu diesem Ort regelmäßig zurückkehren und das Stillsitzen wiederholen.
Als Bub bin ich manchmal abends auf einen von mir favorisierten Hochstand geklettert und habe so lange still mit meinem Fernglas gewartet, bis sich vielleicht ein Reh gezeigt hat. Diese Beobachtung hat mich dann für Wochen mit Begeisterung erfüllt! Aber meine Freunde haben sich für andere Sachen interessiert und nachdem ich sonst niemanden hatte, der mir geholfen hätte, diese Begeisterung zu fokussieren und ihr nachzugehen, war es erst nach der Schulzeit, dass ich als junger Erwachsener mit einem freiwilligen ökologischen Jahr meiner Liebe zur Natur mehr Platz einräumte. Auch dort habe ich die besten Beobachtungen auf einem Sitzplatz gemacht, und die Erfahrung des schweigenden Waldes, der plötzlich nicht mehr schweigt, war seitdem auch philosophisch für mich ein interessantes Phänomen. Aber erst seit meiner Naturführerausbildung und den regelmäßigen Führungen bin ich dazu gelangt, systematisch an einem Sitzplatz Naturbeobachtungen zu machen. Besonders die Wildnisschulen in der Tradition von Jon Young und Tom Brown und deren Mentoren betonen die Bedeutung dieser Routine.

Wo soll mein Sitzplatz sein?
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  • Ideal ist ein Ort, der dreierlei bietet: 1. offene Flächen, Wiesen/Rasen- oder Ackerflächen, 2. Wald oder Baumgruppen, außerdem einzelne Bäume, Hecken, Sträucher, 3. Wasser, idealerweise fließend als kleiner Bach, auch ein Teich ist ausgezeichnet, ansonsten auch ein Feuchtgebiet. Dabei sollte der ganze Ort möglichst viele verschiedene Arten beherbergen und naturnah ausgerichtet sein. Auf dem Foto oben sieht man eine extensiv genutzte Wiese, eine Hecke mit verschiedenen Gehölzen und schließlich ein Stück Mischwald – zwar ist hier kein Wasser dabei, aber als Sitzplatz ist ein solcher Fleck trotzdem perfekt geeignet.
  • Weil ganz entscheidend die Regelmäßigkeit der Beobachtung ist, sollte der Ort auch innerhalb von 5-10 Minuten von Zuhause aus erreichbar sein! Sehr gut ist z.B. auch ein Naturgarten. Wenn man in der Stadt lebt, kann man auch einfach mit dem nächstbesten Park vorlieb nehmen, oder mit industriellen Brachflächen auf denen Gräser, Bäume und Büsche aufkommen. In der Satellitensicht von Online Kartendiensten (ich empfehle mapy.cz) kann man z.B. sehr gut die nächste Freifläche eruieren!
  • Außerdem finde ich es angenehm aus der Sichtbahn von anderen Menschen herausgenommen zu sein, sodass ich mich ganz auf die Beobachtung konzentrieren kann.

Wann beobachte ich?
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  • Der Clou an der Sache ist die Regelmäßigkeit, am Besten gehst Du jeden Tag für 30-60 Minuten auf deinen Sitzplatz. Je häufiger und länger, desto besser, aber kaum jemand hat unbegrenzt Zeit zur Verfügung. Ich rechne mit 5 Min. hin- und Rückweg ca. 1 h, sodass ich 45 Min. effektiv sitzen und beobachten kann.
  • Je nach Tageszeit wirst Du andere Tiere und anderes Verhalten beobachten. Um deinen Sitzplatz wirklich gut kennenzulernen, geh am Besten auch einmal zu unterschiedlichen Zeiten – hier kannst Du Dich zusehends steigern. Weil alle Tiere mehr oder weniger eine Routine haben, lernst Du diese relativ schnell kennen. Kennst Du deinen Platz dann mittags und abends bei jedem Wetter in- und auswendig, kannst Du dir einmal den Sonnenaufgang oder die Nacht dort anschauen.
  • Im Lauf der Jahreszeiten lernst Du dann außerdem nicht nur den großen Kreislauf der Natur, sondern die ganzen kleinen der Tiere kennen, die an den großen gebunden sind. Hältst Du deine Routine über ein Jahr durch, hast Du bereits einen ersten Vergleich zu den Zusammenhängen mit der Witterung und Jahreszeit.

Wie beobachten?

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Wer war hier am Werk? Diese ringsum „ringelnden“ Hackspuren stammen von Spechten, die besonders im Frühling den kalorienreichen Baumsaft anzapfen. Mit dem Lineal ist es klar: hier handelt es sich um Spuren des Dreizehenspechtes, dessen Löcher nur 1-2 cm auseinander liegen, während der Buntspecht 3-4cm Abstand lässt.

Im Prinzip gilt es einfach so aufmerksam wie möglich die Umgebung zu studieren. Aber was heißt genau studieren? Ein paar Tipps können das Schauen deutlich erleichtern:

  • viel wichtiger als der Name der Tiere, die Du beobachtest, ist ihr Verhalten. Bevor Du also herausfinden willst, wie nun dieser Käfer und jener Vogel heißt, beobachte, was sie tun! Wo halten sie sich dabei auf? Verändert sich ihr Verhalten bei verschiedenen Tageszeiten, (Jahreszeiten) und unterschiedlichem Wetter? Versuche, einzelne Individuen zu erkennen, und schau so genau hin, bis Du besondere Merkmale erkennst, die sie von Artgenossen unterscheiden. Dann kannst Du auch versuchen sie in einem Bestimmungsbuch (siehe Literatur unten) wieder zu finden – auch das schult den Blick.
  • Mache Aufzeichnungen! Führe Tagebuch über deine Beobachtungen, anfangs vielleicht im 10-Minuten-Takt, später nach der Sitzplatz-Session zuhause. Zeichne die beobachteten Tiere! Die meisten können einen Spatz oder eine Taube wohl erkennen, aber könntest Du sie auch zeichnen? Das zwingt ganz besonders zum aufmerksamen Beobachten. Auch Tierspuren, die Du am Sitzplatz und in der näheren Umgebung finden wirst, kann man aufzeichnen, vermessen, und ihnen nachgehen – so lange bis Du nicht nur den Urheber, sondern eine ganze Geschichte entdeckt hast, warum, wann, wie, und was er dort trieb. Zum Spurenlesen gibts HIER mehr. Hast Du deine Beobachtungen erst einmal aufgeschrieben, stehen sie Dir gegenüber und stellen wie von selbst Fragen: Warum sind die piepsenden Vögel immer in dem großen Baum links oben? Was machen die dort eigentlich? Was fressen sie, und wo schlafen sie?
  • Um solche Beobachtungen zu machen, ist ein Fernglas natürlich hilfreich. So genial es Dich den heimlich umherstreifenden Tieren näher bringt, so auffällig bist Du aber auch, wenn du hektisch mit dem Glas vor den Augen hin und her wankst. Außerdem bekommt man so nur ganz spezifische Details mit und nicht den Zusammenhang. Ich habe meistens ein Fernglas auf dem Schoß, und wenn ich etwas aus dem Augenwinkel entdeckt habe, dann nehme ich es langsam und entspannt zur Hand und kann so im Zweifel länger das entsprechende Tier beobachten.
  • Ganz besondere Aufmerksamkeit solltest Du den Vögeln schenken, die wie Zeichen für die Anwesenheit von bestimmten Tieren ausschlagen. Ein Vogel fliegt nie umsonst auf, so viel Energieverlust kann er sich nicht leisten. Also muss ihn etwas vertrieben haben/anziehen. Beobachtet man nun genau die Art des Auffliegens, erkennt man schnell, ob es eine größere (Sperber/Habicht) oder kleinere (Katze/Fuchs) Gefahr war, oder ob der Vogel völlig entspannt ist. Außerdem zeigen uns gerade kleinere Singvögel wie Meisen, Rotkehlchen, Amseln und andere Drosseln durch ihre Stimmen an, wie es ihnen geht: der lange Gesang ertönt meist nur, wenn keine Gefahr in Sicht ist, denn dann kommen Warn- und Alarmrufe zum Einsatz. Jede/r hat vermutlich schonmal die Erfahrung gemacht, eine Amsel auf dem Weg verscheucht zu haben. Das leicht vorwurfsvolle „tut-tut-tut“ ist ein erster Warnruf, zuvor hat sie aber meistens schon Essen aufgehört und nervös den Kopf gehoben. Auf solche Signale zu achten ermöglicht am Sitzplatz ein schnelleres Verständnis der Zusammenhänge zwischen den Tieren. Auch wenn auf den ersten Blick die Bewegungen und Rufe der Vögel recht chaotisch scheinen, bei längerer Betrachtung versteht man immer eher ihr Verhalten und kann dann allmählich Schlüsse daraus ziehen. In diesem Video erklärt Jon Young (englisch) sehr nett, was genau es mit Vogelsprache auf sich hat.

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Relativ bald, wenn Du eine Sitzplatz-Routine etabliert hast, können Dir die verrücktesten Sachen passieren: Da kommt plötzlich ein Rehbock drei Meter neben Dir aus dem Gebüsch und lässt sich von Dir nicht stören – oder du siehst den Fuchs in der Sonne faulenzen – oder du entdeckst eine Eule auf ihrem Schlafbaum oder beobachtest das Liebesspiel von einem Meisenpaar. Und nicht nur am Sitzplatz selbst wirst du schnell unglaubliche Beobachtungen machen, deine Sinne werden sich durch diese Techniken generell schärfen, sodass Du überall mehr mitbekommst von all den normal unsichtbaren Tieren rund um uns herum! Das Problem ist nur, so diszipliniert zu sein, wirklich regelmäßig zum Sitzplatz zu gehen… aber es lohnt sich.

Zur Inspiration, zur Recherche, zur Bestimmung: Literatur.

Viele hilfreiche Ratschläge enthalten z.B. die englischen Publikationen von Jon Young:
Sehr sehr empfehlenswert! Gut zu lesen und extrem informativ und inspirierend! Mein Lieblingsbuch aus der letzten Zeit.
Jon Young. What the Robin Knows. How Birds Reveal the Secrets of the Natural World. Mariner Books: New York, 2013.

Ebenfalls sehr empfehlenswert und allgemeiner gehalten ist dieses Buch.
Tom Brown Jr. Tom Brown’s Field Guide to Nature Observation and Tracking. Berkley Books: New York 1983.

Auch sehr informativ, etwas trockener, dafür dicker und umfassender.
Jon Young, Tiffany Morgan. Animal Tracking Basics. Stackpole Books: Mechanicsburg, 2007.

Auch gut und deutsch ist das Buch von Ralph Müller, wenn man vielleicht von einem gewissen Hang zur Esoterik absieht, mit dem ich zumindest nicht viel anfangen kann. Insgesamt aber empfehlenswert und sehr informativ!
Ralph Müller. Die geheime Sprache der Vögel. AT Verlag: München, 2010.

Als Spurenbestimmungshilfe verweise ich hier nochmal auf die schon in meinem Spurenlesen-Post empfohlene Literatur: Besonders den von Bang/Dahlström, oder das modernere von Olsen mit schönen Fotos. Günstiger und auch gut ist Ohnesorge/Scheiba. Generell empfehlenswert sind auch ältere Spurenbestimmungsbücher! einfach auf Eurobuch.com z.B. suchen, dann bekommt man sie sehr günstig und oft mit mehr Text.

Für Vögel kann ich die „Natur kompakt“-Reihe von Dorling Kindersley als ausführlichen und trotzdem kleinen Führer für unterwegs empfehlen (Vögel. 300 Arten entdecken & bestimmen); für die genauere Bestimmung zuhause, wie in meinem Post zur Winterfütterung beschrieben, sind die handgezeichneten Vögel aus Der Kosmos Vogelführer: Alle Arten Europas, Nordafrikas und Vorderasiens einfach perfekt – ideal gleich in der großen Ausgabe (die allerdings nicht ganz billig ist).

Für die Säugetierbestimmung kann ich Pareys Buch der Säugetiere empfehlen, auch bei Eurobuch.com antiquarisch zu erhalten.

Ich hoffe, dass ich Lust machen konnte, sich einen Sitzplatz zu suchen und dort Beobachtungen zu machen. Über Rückmeldungen und Geschichten würde ich mich natürlich sehr freuen!

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